al-Samidoun

Kommentare und Berichte zu Politik, Religion und Kultur mit Fokus auf den Nahen Osten.

Sonntag, 22. Januar 2012

Žižek I: "Vermenschlichung"

Ein Absatz aus Žižeks Buch "Die bösen Geister des himmlischen Bereichs":
Dieselbe Strategie der ideologischen „Vermenschlichung“ (im Sinne der sprichwörtlichen Weisheit „Irren ist Menschlich“) ist auch eine Schlüsselkomponente der ideologischen (Selbst-)Darstellung der israelischen Streitkräfte. Die israelischen Medien gehen gerne ausführlich auf die Unvollkommenheiten und psychischen Probleme der israelischen Soldaten ein und stellen sie weder als perfekte Kampfmaschinen noch als übermenschliche Helden, sondern als ganz normale Menschen dar, die, gefangen in den Traumata der Geschichte und des Krieges, Fehler begehen und die Orientierung verlieren können, wie jeder andere auch. Als etwa die israelische Armee im Januar 2003 das Haus der Familie eines mutmaßlichen „Terroristen“ zerstörte, ging sie mit betonter Liebenswürdigkeit vor und half der Familie sogar noch, ihre Möbel aus dem Haus zu schaffen, bevor sie es mit dem Bulldozer planierte. Kurz zuvor hatte die israelische Presse über einen ähnlichen Vorfall berichtet: Als ein israelischer Soldat ein palästinensisches Haus nach Verdächtigen durchsuchte, rief die Mutter ihre Tochter beim Namen, um sie zu beruhigen, und der verdutzte Soldat musste feststellen, dass das verschreckte Mädchen genauso hieß wie seine eigene Tochter; in einem Anfall von Sentimentalität zückte er seine Brieftasche und zeigte ihr Bild der palästinensischen Mutter. Die Falschheit einer solchen Empathiegeste ist leicht zu erkennen: Die Vorstellung, dass wir trotz aller politischen Differenzen doch Menschen mit denselben Vorlieben und Sorgen sind, neutralisiert die Wirkung dessen, was der Soldat tatsächlich gerade tut. Die einzig richtige Antwort der Mutter müsste also lauten: „Wenn Sie wirklich ein Mensch sind wie ich, warum tun Sie dann, was Sie gerade tun?“ Der Soldat kann sich dann nur noch auf seine verdinglichte Pflicht berufen: „Es gefällt mir nicht, aber es ist meine Pflicht...“ - und so der subjektiven Annahme seiner Pflicht entgehen. Vermenschlichungen dieser Art sollen die Kluft verdeutlichen, die zwischen der komplexen Realität der Person und der Rolle, die sie entgegen ihrer wahren Natur spielen muss, herrscht.
Slavoj Žižek, Die bösen Geister des himmlischen Bereichs, Frankfurt am Main, 2011, S.245f.

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